
Jiddu Krishnamurti
(1895-1986)
Jiddu Krishnamurti: Der Mann, der kein Erlöser sein wollte
Jiddu Krishnamurti versprach Seelenfrieden und verkaufte damit mehr als 4 Mio. Bücher. Trotzdem widersprach er denen, die ihn zu dem religiösen Führer gemacht hatten, der er war: Denn er wollte weder Weltenlehrer noch Erlöser sein, sondern nur ein Mensch auf der Suche.
Eine ganze Generation kannte und verehrte Jiddu Krishnamurti als den Inbegriff eines Menschen, der selbstlos seine Wahrheit lebte. Sie verschlang die 20 Millionen Wörter, die er in 75 Publikationen, auf 700 Audiokassetten und in 1.200 Videokassetten veröffentlicht hatte. Krishnamurti war für sie das Musterbeispiel eines Menschen, der kompromisslos die individuelle Erlösung in den Mittelpunkt seines Glaubens stellte und dabei jede religiöse Struktur vehement ablehnte. Krishnamurti inspirierte den Dalai Lama genauso wie die Autoren Aldous Huxley und Henry Miller, den Maler Jackson Pollock, die Politiker Jawarhal Nehru und Indira Gandhi oder Hollywood Größen wie Bruce Lee.
Was für ein Mann war dieser religiöse Führer, der genau das nie sein wollte?
Artikeltext:
Der Sonderling
Wann genau Jiddu Krishnamurti in jener kleinen Stadt im südlichen Indien geboren wurde, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Es dürfte irgendwann zwischen dem 4. Mai 1895 und dem 25. Mai 1896 gewesen sein. Sein Vater, ein indischer Brahmane und glühender Anhänger der Theosophischen Gesellschaft, arbeitete für die britische Kolonialverwaltung. Von seinem Gehalt ernährte er seine elf Kinder mehr schlecht als recht. Krishnamurti war der Versager in der Familie, schlecht in der Schule, kränklich, ungeliebt, häufig geschlagen. So suchte er Frieden in der Natur. Dort glaubte er mit den Toten zu kommunizieren, seiner geliebten Mutter, der viel zu früh verstorbenen Schwester. Damit lag Krishnamurti im Trend. Viele waren um die Jahrhundertwende davon überzeugt, dass der Vorhang zwischen Leben und Tod durchlässig sei. Das behauptete auch die Theosophische Gesellschaft, bei der Krishnamurtis Vater seit 1907 als Sekretär arbeitete.
Entstanden war die Theosophische Gesellschaft um 1875 in New York aus dem spiritistischen Zirkel um das Medium Petrovna Blavatsky. Ihr Ziel war die Erforschung des Okkultismus. Dazu wollte man die Religionen der Welt, die Philosophie und die Naturwissenschaften studieren, all das im Geist der universellen Brüderlichkeit, die keine Unterschiede hinsichtlich Herkunft, Glaube, Geschlecht und Hautfarbe machte. Bewusst setzte man sich von allen christlichen Dogmen ab und verherrlichte das eigenständige Denken. Natürlich bildete sich trotzdem so etwas wie eine spirituelle Elite heraus. Und als Blavatsky beschuldigt wurde, bei ihren Geistererscheinungen getrickst zu haben, rutschte die Theosophische Gesellschaft in eine tiefe Krise.
Der Heiland
Auch Charles Webster Leadbeater befand sich auf einem persönlichen Tiefpunkt. Man bezichtigte ihn, den gelehrten Theologen und begeisterten Okkultisten, er habe den theosophischen Nachwuchs während der Ausbildung nicht nur in Meditation, sondern auch in Selbstbefriedigung unterrichtet. Der Skandal führte 1906 zu Leadbeaters Ausschluss aus der Theosophischen Gesellschaft.
Und da begegnete er 1909 dem kleinen Krishnamurti am indischen Strand nahe dem Theosophischen Zentrum. Leadbeater eilte zu Annie Besant, damals die Leiterin der Theosophischen Gesellschaft, und erzählte ihr, der Junge habe eine unglaubliche Aura. Sie beweise, er werde ein großer, nein der größte spirituelle Lehrer sein.
Besant adoptierte Krishnamurti; Leadbeater übernahm die Erziehung. Sie beide überzeugten Krishnamurti und viele gläubige Theosophen, dass dieses halbe Kind am Rande der Pubertät der wiedergeborene Christus sei.

Der Weltenlehrer
Natürlich wurde Leadbeater rehabilitiert. Krishnamurti war überzeugend. Er war zu froh, Hunger und Schlägen entkommen zu sein, um seinen Rettern zu widersprechen. So ließ er sich brav zum Stern des 1911 gegründeten Order of the Star of the West machen. Diese Glaubensgemeinschaft vereinigte alle, die an den Heiland Krishnamurti glaubten. Unter Aufsicht Leadbeaters absolvierte er weltweit ein riesiges Pensum an öffentlichen Auftritten.
Leadbeater hatte für den jungen Inder ein detailliertes Ausbildungsprogramm konzipiert. Die Schwerpunkte lagen dabei auf Theosophie, Yoga, Meditation und Hygiene. Er machte aus Krishnamurti einen faszinierend exotischen Jugendlichen, der weltmännisch auftrat, die Lehren der Theosophie eloquent formulierte, und alle Erwartungen der westlichen Gläubigen erfüllte.
Krishnamurti war ein voller Erfolg. Er brachte der Theosophischen Gesellschaft die so erwünschte Aufmerksamkeit und reichlichen Spenden.
Der Rebell
Und dann kam die Krise. Krishnamurti erlebte seine erste große Liebe, die natürlich unglücklich endete. Er musste lernen, dass ein Heiland sich schwer tut, eine Beziehung auf Augenhöhe zu führen. Kurz darauf wurde bei seinem Bruder Tuberkulose diagnostiziert. Kein Grund zur Besorgnis, mag Krishnamurti zunächst gedacht haben. Leadbeater hatte ihm zugesichert, dass die Aura seines Bruders zeige, welch wichtige Rolle er als sein Helfer in Zukunft spielen werde.
Krishnamurti und Nitya reisten also ins gesunde Kalifornien. Sie ließen sich in Ojai Valley nieder. 1925 feierte die Theosophische Gesellschaft ihr 50-jähriges Bestehen und Krishnamurti ließ seinen kranken Bruder in Kalifornien zurück, um sich selbst bei den unzähligen Feierlichkeiten als Messias und Erlöser feiern zu lassen. Kurz nach seiner Rückkehr starb Nitya am 13. November 1925. Trotz Leadbeaters Versprechungen. Hatte sich Leadbeater auch in anderen Fragen geirrt? War er, Krishnamurti vielleicht gar nicht der Messias, sondern nur ein kleiner Inder, den die Theosophische Gesellschaft für ihre Zwecke benutzte?

Der Mensch
Am 3. August 1929 verkündete Krishnamurti dass er nicht der Messias sei. Er löste den Order of the Star of the West auf und forderte von seinen Anhängern, nach individuellen Wegen der Erlösung zu suchen. Er habe erkannt, dass es keinen gemeinsamen Weg zur Wahrheit gäbe, sondern dass jeder ihn für sich suchen und gehen müsse. Krishnamurti gab alles, was Gläubige ihm geschenkt hatten, zurück und trat ein Jahr später aus der Theosophischen Gesellschaft aus.
Der Prediger der geistigen Freiheit

Überraschenderweise ließ ihn Annie Besant, Leiterin der Theosophischen Gesellschaft, nicht fallen. Solange sie lebte, unterstützte sie Krishnamurti finanziell, so dass er seine eigene Gemeinschaft etablieren konnte. Begleitet von einigen Getreuen zog er bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs predigend und meditierend durch Europa, Lateinamerika, Indien, Australien und die USA.
Da der Krieg persönliche Begegnungen erschwerte, begann Krishnamurti zu schreiben. Seine leicht verständlichen und menschlich überzeugenden Texte machten ihn berühmt. Krishnamurti entwickelte sich zu einem Idol der 1968er Bewegung. Sein Credo, dass nur das Individuum, losgelöst von jeder staatlichen, religiösen oder moralischen Autorität Erlösung finden könne, passte wunderbar zum Zeitgeist der 1970er Jahre. Krishnamurti wurde zu einer Ikone, die natürlich auch gerne angegriffen wurde. So unterstellten ihm die Medien, er würde die Gläubigen ausbeuten, indem er sie zu hohen Spenden ermuntere. Tatsächlich war Krishnamurti für Reisen und Unterhalt auf Spenden angewiesen. Obwohl seine Bücher in immensen Auflagen verkauft wurden, schaffte er es nie, ein stetes Einkommen daraus zu beziehen. Er hat sich wohl gar nicht darum bemüht. Genauso wie er sich nie darum bemühte, den Anschuldigungen der Medien entgegen zu treten.
1984/5 erreichte seine Bekanntheit den Höhepunkt. Der inzwischen fast 90-jährige sprach zweimal vor den United Nations in New York. Seine letzte Rede hielt er am 4. Januar 1986 in Madras. In ihr teilte er seinen Anhängern mit, dass er keinen Nachfolger ernennen wolle. Ein letztes Mal plädierte er für die persönliche Verantwortung jedes einzelnen, was das Seelenheil angeht.
Krishnamurti starb im Alter von 90 Jahren am 17. Februar 1986. Um keine Pilgerstätte zu entstehen zu lassen, ließ er sich verbrennen und seine Asche auf mehrere Orte verteilen. So weht heute sein Geist in Ojai Valley, in England, an drei verschiedenen Orten in Indien und überall dort, wo ein Leser sich mit seinem Werk auseinandersetzt.