Wir und das Fremde: Wie wir die Welt kennenlernten

Die Fremde, so nannten wir stets das, was wir nicht kannten - und das war früher viel mehr als heute. Über die Geschichte hinweg hat Europa seinen Blick aufs Fremde stetig erweitert, verändert und dabei auch viel über sich selbst gelernt. Lassen Sie sich diese Entwicklung von den Büchern der Bibliothek des Moneymuseums vor Augen führen!

Zu den Stationen
Wir und das Fremde: Wie wir die Welt kennenlernten

von

Daniel Baumbach und Ursula Kampmann

„Das Fremde bezeichnet etwas, das als abweichend von Vertrautem wahrgenommen wird, das heißt, als etwas tatsächlich oder vermeintlich Andersartiges und weit Entferntes.“ So definiert Wikipedia den Begriff des „Fremden“ heute. Aber kann in einer Welt, in der es 21 Stunden dauert und 600 Franken kostet, auf die andere Seite des Globus zu gelangen, überhaupt noch etwas „fremd“ sein? Ja, es kann. Die Zunahme des Ethnozentrismus, des auf die eigene Kultur konzentrierten Denkens, und der Xenophobie, der Angst vor allem Fremden, in den vergangenen Jahren lehrt uns, dass es durchaus noch Dinge in unserem Alltag gibt, die wir als „fremd“ empfinden, fürchten und deshalb auszugrenzen versuchen.

Ist das schon seit Jahrhunderten so? War die Fremde immer etwas, das als angsterregend wahrgenommen wurde? Um diese Frage zu klären, reisen wir zurück in die Vergangenheit. Als Transportmittel dient uns kein Flugzeug, keine Kamelkarawane, sondern Bücher aus der Bibliothek des MoneyMuseums. Anhand ihrer Texte und Abbildungen zeigen wir in sechs Stationen mit insgesamt zwölf Büchern, wie sich unser Blick aufs Fremde langsam erweitert und verändert hat. Wir spannen dafür den Bogen von Marco Polos Reisebericht über seinen Aufenthalt im Reich des Kublai Khan vom Ende des 13. Jahrhunderts bis hin zu Erich Scheuermanns „Papalagi“ aus dem Jahr 1920.

Reisen Sie mit uns in die Fremde - und das in einer Zeit, in der die Fremde wirklich noch weit entfernt und andersartig war.

Station 1: Die fremde Fremde

Unsere erste Station beschäftigt sich mit einer Zeit, in der es keine Selbstverständlichkeit war, zu reisen. Wer sich in die Fremde begab, hatte einen guten Grund dafür: Er wollte Länder erobern wie Alexander der Große; er trieb Handel wie Marco Polo; oder er ging auf Pilgerschaft, um in Rom, dem Heiligen Land oder Santiago sein Seelenheil zu gewinnen.

Wer wohlbehalten von seinen Abenteuern zurückkam, erzählte staunenden Zuhörern immer wieder von seinen Erlebnissen. Was erzählt wurde? Wir wissen es nicht, denn die reiche mündliche Überlieferung hat sich uns nicht erhalten.

Nur ganz selten wurden Reiseerlebnisse aufgeschrieben. Das wohl berühmteste Beispiel ist das Buch des irischen Mönchs Brendan (ca. 484-577), in dem er darüber berichtet, wie er über das Meer fuhr, um das Paradies zu finden. Es enthält mehr wunderbare Ereignisse als reales Geschehen. Ob der Autor damit den Erwartungen seiner Leser entgegenkommen wollte oder sich so manches Geschehen nicht anders erklären konnte? Als jedenfalls mehr als ein halbes Jahrtausend später der berühmteste Reisebericht der Weltgeschichte entstand, nannte ihn sein Schöpfer „Das Buch über die Wunder der Welt“. Ihn stellen wir Ihnen zunächst vor.

Es folgt die Schweizer Chronik des Johannes Stumpf. Mit Hilfe der Illustrationen zeigen wir Ihnen, dass selbst die Intellektuellen Mitte des 16. Jahrhunderts noch keine Vorstellung davon hatten, wie es in der Fremde aussah.

Die Wunder der Welt

Im Jahr 1298 begegneten sich der weit gereiste Kaufmann Marco Polo und der Schriftsteller Rustichello da Pisa in einem Gefängnis. Während die Männer auf das Eintreffen des Lösegelds warteten, erzählte Marco Polo von seinen Reisen. Rustichello da Pisa, der bereits mehrere Ritterromane verfasst hatte, schrieb dessen Erlebnisse auf und schuf damit einen Bestseller, der bis heute immer wieder neu aufgelegt wird. „Le Livre des merveilles du monde“ (= das Buch über die Wunder der Welt) war von Anfang an ein Erfolg. Erhalten haben sich 150 Handschriften in vielen verschiedenen Sprachen. Der Erstdruck erfolgte bereits 1477 in Nürnberg.

Das Buch beschreibt eine Reise, die der Venezianer Marco Polo zusammen mit seinem Vater und seinem Onkel machte, um an den Hof des Großkhans der Mongolen zu gelangen. Kublai Khan nahm Marco Polo in seinen Dienst, so dass dieser ganz China erkundete, ehe er nach Venedig zurückkehrte. Dies war eine unglaublich weite Reise, während der Marco Polo außerordentliche Dinge sah.

Schon Polos Zeitgenossen waren hinsichtlich vieler Fakten skeptisch. Sie hielten zum Beispiel seine Schilderung der Pracht am Hof des Großkhans für maßlos übertrieben, da man in der gebildeten Welt die Schriften Williams von Rubrucks kannte, der die Mongolen als wilde Barbaren charakterisiert hatte.

Auch heute noch gefallen sich manche Autoren darin, Marco Polo als Betrüger entlarven zu wollen: Er sei nie in China gewesen, habe sein Wissen aus Büchern zusammengetragen, sonst hätte er die große Mauer, den chinesischen Tee oder wenigstens die Essstäbchen erwähnt.

Quelle: Maximilian Dörrbecker / CC BY-SA 2.5)

Hans Ulrich Vogel von der Universität Tübingen konnte 2012 in seinem Buch „Marco Polo Was in China“ klarstellen, dass Marco Polo tatsächlich China bereist haben muss. Anders könne man die vielen Details nicht erklären, die Marco Polo über das Geldwesen, die Salzproduktion und die Steuern im Reich des Großkhans wusste und uns in seinem Buch überlieferte.

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So ist Marco Polo zum Beispiel der einzige zeitgenössische Autor, der sowohl die Form als auch die Größe des damals im mongolischen Reich benutzten Papiergelds exakt beschrieb. Für einen Kaufmann, wie der Autor es war, war es eben von entscheidender Bedeutung zu wissen, wie das Geld aussah, mit dem auf dem Markt bezahlt wurde.

Genauso berichtete er von der Verwendung der Kaurischnecke als Zahlungsmittel. Keine andere Quelle, die vor oder gleichzeitig mit dem Reisebericht Marco Polos entstand, erwähnt dieses exotische Zahlungsmittel. Doch archäologische Funde und chinesische Quellen, die lange nach Marco Polos Abreise aus dem Reich des Großkhans entstanden, bestätigen seine Schilderungen.

Marco Polo war Kaufmann und schrieb für andere Kaufleute. Deshalb überliefert er die Details, die für einen Händler interessant waren. So zum Beispiel beschreibt er in seinem Kapitel 71 die Handelsstadt Sinju, heute Yizheng, folgendermaßen:

„Ihr müsst wissen, dass Ihr nach dem Verlassen der Stadt Yanju, nachdem Ihr 15 Meilen südöstlich gegangen seid, zu einer Stadt namens Sinju kommt, die nicht besonders groß ist, aber eine sehr große Bedeutung für Schifffahrt und Handel hat. Die Bewohner sind Götzendiener und dem Großen Khan untertan und benutzen Papiergeld. Und Ihr müsst wissen, dass diese Stadt am größten Fluss der Welt liegt, der Kian heißt. Er ist an einigen Stellen zehn Meilen breit, an anderen acht, an anderen sechs, und er hat von einem Ende zum anderen eine Länge von mehr als 100 Tagesreisen. Das ist der Grund, dass so viel Handel in der Stadt, von der wir sprechen, ist. ... Der besagte Messer Marco Polo teilt uns mit, dass er von einem Offizier, der angestellt war, die Steuern für den Großkhan an diesem Fluss einzutreiben, hörte, dass im Jahr 200.000 Schiffe den Strom hinauffahren, ohne die zu zählen, die den Strom hinunterfahren.“

Doch auch Marco Polo kam nicht ganz ohne Wunder aus: So erzählt er vom riesigen Vogel Greif und den hundeköpfigen Einwohnern der Andamanen-Inseln. Vielleicht stammen diese Einschübe aber auch von Rustichello da Pisa, der so die Erwartungen der Leser befriedigte und damit das Buch attraktiver machte.

Die hier gezeigte Buchillustration erinnert an die bei Marco Polo überlieferte Geschichte des Alten vom Berge und seiner Assassinen: Er soll seinen Anhängern mittels Haschisch ein Paradies vorgespiegelt, und sie so davon überzeugt haben, in seinem Namen Morde zu begehen.

Die Schweiz und der Rest der Welt

Am 9. März des Jahres 1522 geschah in Zürich Skandalöses. Einige Männer aßen dünne Scheiben Wurst - und das mitten in der Fastenzeit. Der Skandal war geplant. Der Zürcher Reformator Zwingli hatte ihn eingefädelt. Deshalb wird dieses Wurstessen gerne als der Beginn der Zürcher Reformation verstanden.

Der Mann, in dessen Haus das skandalöse Geschehen stattfand, hieß Christoph Froschauer und war von Beruf Drucker. Er wurde das Sprachrohr der Zürcher Reformation. In seinem Verlag erschienen die von Zwingli neu übersetzte Zürcher Bibel und dessen theologische Traktate. Auch seine Schweizer Chronik aus der Feder von Johannes Stumpf spielte eine wichtige Rolle für die Reformation.

Quelle: Adrian Michael / CC BY-SA 3.0

Stumpf war nämlich nicht nur Historiker, sondern auch Theologe, der seine Chronik als die Geschichte eines auserwählten Volkes gestaltete, das mit Gottes Hilfe seine Freiheit gewinnt. Zum großen Gegenspieler dieser Freiheit stilisierte er die Habsburger. Er schildert sie und ihre Beamten in den düstersten Farben. Die Geschichte von Wilhelm Tell, den ein bösartiger Vogt namens Gessler zwang, einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen, sollte durch Friedrich Schiller weltberühmt werden.

Mit seiner Chronik schenkte Stumpf den reformierten Schweizern ein Bild von ihrer eigenen Vergangenheit, das den Kampf, den die Protestanten Mitte des 16. Jahrhunderts gegen den Habsburger Kaiser Karl V. führten, zu einer natürlichen Fortsetzung des bereits Geschehenen machte.

Um die Rolle der Schweizer Reformation in der Weltgeschichte zu begreifen, musste der Leser diese Welt kennen. Deshalb behandelte Stumpf nicht nur die Eidgenossenschaft, sondern die ganze Welt. Dabei war der Autor über die - zeitlich und geographisch - „nahe Fremde“ ausgezeichnet informiert. Schließlich verdienten zahllose Schweizer seit dem Sieg über Karl den Kühnen im Jahr 1477 ihr Geld als Reisläufer. Sie kannten große Teile Europas aus eigener Anschauung. Kein Wunder, dass die hier gezeigte Karte von Sizilien so genau ist, während die Weltkarte eher vage bleibt.

Um seine Chronik für Käufer interessanter zu machen, engagierte Froschauer einen der besten Illustratoren der damaligen Zeit: Heinrich Vogtherr schuf 400 Holzschnitte, mit denen der Text aufgelockert wurde. Wer aber in den reich illustrierten Bänden die Holzschnitte zählt, wird schnell feststellen, dass etliche mehrfach benutzt wurden, um so mit wenig Aufwand eine reichhaltigere Illustration vorzuspiegeln. Die „Porträts“ dieser Herrscher wurden immer wieder in anderen Zusammensetzungen benutzt.

Dies war möglich, weil Künstler und Betrachter die Vorstellung fehlte, dass sich das Aussehen einer Sache über die Jahrhunderte hinweg verändert haben könnte. Hier ein Beispiel: Auf dieser Abbildung ist die Baustelle gezeigt, die Romulus und Remus 753 v. Chr. für die Gründung Roms einrichteten. Trachten und Baumaschinen entstammen aber der Zeit, in der die Chronik entstand.

Vogtherr kannte - genau wie Froschauer und Stumpf - nur die Deutschschweiz, Süd- und Mitteldeutschland. Fehlten ihm Vorlagen für Bilder von Gegenden, die er noch nicht gesehen hatte, schuf er sie nach dem, was er kannte. Deshalb sieht auf diesem Bild, das die Erstürmung von Konstantinopel durch die Osmanen im Jahr 1453 darstellt, das exotische Konstantinopel aus wie eine Schweizer Stadt, und die Türken ähneln den typisch Schweizerischen Gewalthaufen.

Für das, worüber niemand genaue Informationen hatte, griffen Autor und Illustrator auf die klassische Überlieferung zurück. Die auf dieser Karte genannten Blemmier, die an den Quellen des Nils gleich nördlich von den Menschenfressern (Antropophagen) lebten, kannte bereits Plinius der Ältere. Viele Chronisten beschrieben sie - vor und nach Johann Stumpf. Schuld daran war wahrscheinlich ihr spektakuläres Aussehen: Sie hatten keinen Kopf und trugen auf der Brust eine Art Gesicht. Und schon damals gab es viele Leser, die sich für Sensationen begeistern konnten.

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Gemeiner Löblicher Eidgenossenschaft Städte, Länder und Völker Chronik, würdiger Taten Beschreibung
Johannes Stumpf
Verlegt in Zürich bei Christoph Froschauer, 1586
 L'Ambassade de la Compagnie Orientale des Provinces Unies vers l'Empereur de la Chine, ou Grand Cam de Tartarie, faite par les sieurs Pierre de Goyer et Jacob de Keyser illustrée d'une très-exacte description des villes, bourgs, villages, ports de mer
Joan Nieuhoff
Publiziert von Jean de Meurs, französische Übersetzung des niederländischen Originals von 1663.

Station 2: Der Handel mit der Fremde

Seit den Kreuzzügen wusste die Elite Europas die Spezereien und Stoffe aus dem Osten zu schätzen. Hatten die Venezianer diese Waren viele Jahrhunderte lang aus Konstantinopel und Alexandria bezogen, wurden diese Handelsrouten durch die Türkenkriege praktisch unbenutzbar.

Doch Europa hungerte nach exotischen Luxuswaren wie Gewürzen, Tee, kostbaren Stoffen, Porzellan und Lackarbeiten aus Asien. Abenteuerlustige Händler machten ein Vermögen damit, diese Waren nach Europa zu bringen. Die Verkürzung von Seerouten bot Aussicht auf noch größere Gewinne. So war die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus mehr oder minder ein Nebeneffekt seiner gescheiterten Expedition zur Auffindung einer kürzeren Route nach Asien.

Auch wenn der Begriff „Zeitalter der Entdeckungen“ mittlerweile aus der Mode gekommen ist, beschreibt er aus europäischer Sicht sehr gut, was im 16. Jahrhundert geschah: Europa entdeckte die Welt als Handelspartner und Spielplatz für skrupellose Abenteurer, die begeistert feststellten, dass es auf der Welt einige Völker gab, die man prächtig ausbeuten konnte.

Wir stellen Ihnen an dieser Station zwei etwa gleichzeitig entstandene Bücher vor. Das eine berichtet über Persien und das Reich der Moguln in Indien, das andere über China. Beide thematisieren aber vor allem eines: Wie viele kostbare Waren es in diesen Ländern gab, mit denen gute Geschäfte zu machen waren.

Die East India Company

Als der englische König Charles II. 1662 seine portugiesische Braut empfing, und diese eine Tasse Tee verlangte, antwortete der König verlegen: „In England trinken wir keinen Tee. Vielleicht würde ein Bier reichen?“ 20 Jahre später amüsierten sich die Briten schon über dieses Zitat, denn England war eine Nation der Teetrinker geworden. Dafür trug vor allem die britische Fernhandelsgesellschaft Verantwortung: Die East India Company.

Die gab es zwar schon seit 1600, ihr Erfolg war aber zunächst nur mäßig. Erst, als besagter König Charles II. der Company 1670 umfangreiche neue Rechte gewährte, begann sich die Situation zu ändern. Innerhalb der nächsten hundert Jahre entwickelte sie sich geradezu zu einer Art Staat, der nicht nur das Handelsmonopol in Indien besaß, sondern den Subkontinent Stück für Stück eroberte und dabei unfassbar reich wurde. Der Handel mit der Fremde war den Europäern also nicht genug, die Fremde musste beherrscht werden.

Das Buch von John Ogilby beschreibt Persien und das Mogulreich, das weite Teile Indiens umfasste. Ogilby selbst war nie dort gewesen. Er veröffentlichte dieses Werk in seiner Funktion als Hofkosmograph des englischen Königs nur wenige Jahre nach der Ausweitung der Privilegien der East India Company: Diese durfte u. a. eigenes Geld prägen, eigene Truppen rekrutieren, eigene Kriege führen und eigenes Land erobern – solange sie sich dabei auf die ihr zugewiesenen Gebiete beschränkte.

Das Interesse am Buch war unter den Zeitgenossen sehr groß. Die Londoner Elite fragte sich nämlich, ob es sich lohnte, in die Aktien der Company und den Handel mit dieser fremden Welt zu investieren. Ogilby schuf mit seinem Buch einen Anreiz für Investoren und trug mit seiner Werbung für die Company zu ihrem Aufstieg bei.

Kaffee aus dem Orient, Tee aus China, Kakao aus Amerika: Der Handel mit der Neuen Welt änderte die Trinkgewohnheiten in Europa nachhaltig, was diese Buchabbildung von Sylvestre Dufour von 1685 veranschaulicht. Auch die meisten Gewürze sowie Kartoffeln, Tomaten, Mais, Erdnüsse, Kürbisse, Ananas, Vanille, Paprika usw. waren zu Beginn teure Luxusgüter aus Übersee. Erst mit der Zeit wurden sie für jedermann erschwinglich.

Ogilbys Buch beinhaltet diese ausfaltbare Karte von „Ostindien“. So bezeichnete man damals die Gebiete Südostasiens, von Indien über die „Gewürzinseln“ Indonesiens bis nach China und Japan, in Unterscheidung zu Westindien, mit dem man Amerika meinte. Ostindien lockte mit unglaublichen Reichtümern, weshalb der dortige Handel zwischen den Seefahrernationen Europas hart umkämpft war.

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Das Bild eines indischen Künstlers um 1760 zeigt einen hohen Company-Amtsträger in Indien. Mit nur einigen tausend Mann gelang es der Company, den indischen Subkontinent nach und nach unter ihre Kontrolle zu bringen. Das ist um so beeindruckender, wenn man bedenkt, dass laut Schätzungen ca. 29% der Weltbevölkerung um 1700 im Mogulreich gelebt haben sollen! Die East India Company gilt heute als mächtigster Konzern der Weltgeschichte.

Nichts stand in Europa so sehr für die Fremdartigkeit Indiens wie der Elefant. Kein Wunder, dass sie uns so oft auf Darstellungen begegnen. Auch bei Ogilby. Dem gebildeten Leser waren Elefanten damals hauptsächlich als Kriegswaffe der Antike bekannt. Einige wenige gelangten in der frühen Neuzeit als diplomatische Geschenke nach Europa und wurden dort als Sensation bewundert.

John Ogilby stand hoch in der Gunst des englischen Königs Charles II. Diese Szene, die aus einem anderen seiner Bücher stammt, zeigt ihn kniend vor König und Königin (wir erinnern uns: die, der man leider keinen Tee reichen konnte.) Das königliche Wohlwollen war mit viel Arbeit verdient: Ogilby hatte sich mit detaillierten Straßenkarten Englands einen Namen gemacht. Außerdem agierte er als Verleger wichtiger Bücher, u. a. auch für den Autor, den wir Ihnen als nächstes vorstellen: Joan Nieuhoff.

China: Bewundertes Vorbild

In der globalisierten Welt von heute ist es nur schwer vorstellbar, was für eine Faszination im Europa des 17. Jahrhunderts für die Fremdheit von Waren aus dem Fernen Osten herrschte – und für die Länder selbst.

Frühe Berichte von China zeichneten das Bild eines irdischen Paradieses; von Reichtum, Frieden und Weisheit. Die von Händlern mitgebrachten fremdartigen Gegenstände aus gänzlich unbekannten Materialien bestärkten in Europa den Eindruck, dass China eine ganz und gar fremde Welt sei. Besonders in den Jahren nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg wurde China, das alte und friedliche Riesenreich der Vernunft und Weisheit, durch seinen Kontrast zu den Zuständen in Europa als erstrebenswertes Vorbild verklärt. Könige begeisterte die Vorstellung eines allmächtigen Kaisers. Humanisten und Aufklärer faszinierte die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Kirche und Aristokratie, eines auf Leistung statt Herkunft basierenden Beamtenapparats und einer bis in die untersten Schichten gebildeten Bevölkerung. Die Chinesen waren die einzigen Fremden, die von den Europäern damals als ebenbürtig – wenn nicht gar als überlegen! – angesehen wurden.

Eines der Bücher, das Informationen über China lieferte, ist der Bericht von Joan Nieuhof, der als Mitglied der niederländischen Handelsgesellschaft das Land und den Kaiserhof in Peking besuchte. Es steckt voller landeskundlicher Informationen und ist fast schon dekadent mit 150 Kupferstichen illustriert, die einen umfassenden, realistischen Eindruck von China lieferten – nicht wie Stumpfs „eingedeutschte“ Ansicht von Konstantinopel!

Kein Wunder, dass dieses Buch ein unglaublicher Erfolg war. Es wurde wieder und wieder aufgelegt und übersetzt – hier sehen Sie die französische Ausgabe. Dieses Buch war ein wesentlicher Auslöser für die in Europa einsetzende China-Mode, die den Kontinent in den folgenden hundert Jahren maßgeblich prägte.

Während Nieuhof China besuchte, regierte der junge Kaiser Shunzhi, der den Europäern relativ tolerant gegenüberstand. Deshalb sendete die niederländische Ostindien-Kompagnie wiederholt Gesandtschaften zum Kaiser, um über Handelsrechte zu debattieren. Mit so einer Gesandtschaft besuchte auch Nieuhof den Kaiserhof in Peking, was nur extrem wenigen Europäern gestattet wurde.

Nieuhofs Buch liefert Ansichten von den wichtigsten Städten Chinas. Die südchinesische Stadt Kanton war damals als Handelshafen zentral für den Warenverkehr mit Europa, was die vielen westlichen Schiffe auf dem Kupferstich erklärt. 100 Jahre lang durften die Europäer sogar nur dort Handel treiben. Heute heißt Kanton Guangzhou und hat 14 Millionen Einwohner.

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Was Nieuhofs Buch so besonders machte, war, dass er nicht nur Karten, Kaiser und Städte abbildete, sondern auch ein Bild vom Leben in China vermittelte. Von den Menschen, ihrer Kleidung, ihren Frisuren, ihren Werkzeugen, ihren Behausungen. Hier sehen wir zum Beispiel chinesische Bauern und Bäuerinnen.

Besonders das chinesische Porzellan hatte es den Europäern angetan, weil man es lange Zeit selbst nicht herstellen konnte. Erst 1708 wurde das Geheimnis des zerbrechlichen „weißen Goldes“ gelüftet. Damals kombinierte man chinesische Motive mit dem verspielten europäischen Geschmack des Rokoko, wie diese 1766 in der Manufaktur Höchst bei Frankfurt hergestellte Porzellanskulptur zeigt.

Porzellankabinette in den Schlössern; Pagoden in den Gärten: Im 18. Jahrhundert war man besonders im Adel verrückt nach allem, was aus China kam oder einfach chinesisch aussah. Hier sehen Sie die 50m hohe Pagode in den Kew Gardens in London. Sie wurde 1762 errichtet. Vorbild dafür soll eine Darstellung aus Nieuhofs Buch gewesen sein – und dass, obwohl es damals bereits 100 Jahre alt war!

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Johann Baptist Homann
Publiziert im Verlag des Autors
Antoine Banier und Jean-Baptiste Mascrier
Verlegt bei Rollin Fils in Paris 1741, illustriert mit Abbildungen von Bernard Picard.

Station 3: Die Fremde wird beschrieben, vermessen und bewertet

1751 erschien der erste Band der so genannten Encyclopédie. Dieses Hauptwerk der Aufklärung wollte das gesamte Wissen Europas in einem gewaltigen Lexikon erfassen. Ganz dem Geiste seines Initiators Diderot verpflichtet, versuchten die Autoren der rund 70.000 Artikel sachlich und vorurteilsfrei - jedenfalls in ihren Augen - Wissen zu sammeln.

Diese neue Art, die Welt zu beschreiben, hatte natürlich auch ihre Auswirkungen auf die Bücher, die von der Fremde handelten. Diese wurde zu einem Objekt der Wissenschaft, dem man mit forschendem Geist zu Leibe rückte, das der Wissenschaftler aber durchaus auch zu bewerten bereit war. Vergleiche wurden gezogen zwischen Europa und der Fremde, fremde Völker in „zivilisiert“, „barbarisch“ und „wild“ unterteilt.

Und natürlich schwang ständig die Frage mit, welches Volk die meisten Verdienste habe und den größten Fortschritt aufweise. Die Gelehrten der Aufklärung hatten dabei keinerlei Hemmungen, sich selbst als Maßstab zu nehmen.

Wir illustrieren diese Entwicklung mit einem Atlas vom Beginn des 18. Jahrhunderts und einem epochemachenden Werk, mit dem die vergleichende Religionsgeschichte begonnen hat.

Die Vermessung der Welt

Nichts hilft besser, die Welt zu verstehen, als Karten. Sie formen unsere Vorstellung von der Erde und ihren geographischen Gegebenheiten. Sie sind damit existentiell für viele Wissenschaften. Kein Wunder, dass Globen und Atlanten in den Bibliotheken der frühen Neuzeit allgegenwärtig waren.

Dieses kartographische Bild von der Erde wurde in Europa ständig aktualisiert. Wer abseits der bekannten Handelsrouten segelte, dokumentierte seine Route sorgfältig und leitete seine Erkenntnisse weiter. Schließlich galt es nicht nur, bessere Wege für die Seefahrt zu finden, sondern sich gleichzeitig den eigenen Nachruf zu sichern: Viele Buchten, Berge und Inseln trugen ihre Namen nach denjenigen, die sie verzeichnet oder die Expedition finanziert hatten.

Einer der bedeutendsten Kartographen seiner Zeit war der Verleger dieses Werks: Johann Baptist Homann. Nichtsdestotrotz hat er für diesen Atlas das Rad nicht neu erfunden. Weder hatte er Zugang zu exklusivem Kartenmaterial, noch unternahm er selbst Reisen oder finanzierte Expeditionen mit dem Auftrag, unbekannte Länder zu vermessen. Homann benutzte längst bekannte Karten, um nach ihrem Vorbild seine eigenen zu schaffen.

Viel bemerkenswerter war seine Methode der Vermarktung: Jeder Käufer konnte nach eigenem Interesse und Bedürfnis genau die Karten kaufen, die er in seinen eigenen Atlas zusammenstellen wollte. Der Käufer unseres Exemplars war anscheinend nicht arm, denn sein Exemplar umfasst 60 Karten von allen damals bekannten Kontinenten und ist aufwendig dekoriert und koloriert.

Um zu verstehen, wie modern Homann war, muss man ihn mit früheren Karten vergleichen, hier eine aus dem Jahr 1507 von Martin Waldseemüller. Beachten Sie vor allem den länglichen Kontinent ganz links im Bild, Amerika. An ihm sehen Sie gleich, welchen Fortschritt die Vermessung der Welt bis zu Homanns Atlas von 1710 gemacht hatte.

Homanns Amerika scheint uns schon sehr vertraut. Aber werfen Sie einen Blick auf die nordamerikanische Pazifikküste: Der Norden ist nur schemenhaft dargestellt – man ging noch bis ins späte 18. Jahrhundert davon aus, dass Kalifornien eine Insel sei.

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Homann schmückte wie viele andere Kartographen seine Karten mit kleinen Sinnbildern, die eine Vorstellung vom Land geben und die Phantasie der Leser anregen sollten. Hier sehen wir Amerika, repräsentiert durch die Bewohner des Landes sowie einheimische Tiere.

Welche Rolle Europa sich selbst in der Erschließung Amerikas zuschrieb, zeigen die „edlen“ Kolonisten mit Säbel und Gewehr, die buchstäblich über den primitiven Ureinwohnern stehen, die halb nackt herankommen, um staunend die Kolonisten zu bewundern.

Die fremden Welten wurden bei Homann in der Regel nur mit einer Karte pro Kontinent wiedergegeben. Die Darstellung Europas war wesentlich detaillierter: Alle 10 Reichskreise des Heiligen Römisches Reichs bekamen ihre eigene Karte, genau wie die Schweiz, die wir hier sehen.

Ebenfalls von Homann stammt eine Karte des Schlaraffenlands, jenes fiktives Lands, wo Milch und Honig fließen. Der erstaunliche Detailreichtum basiert auf einem fiktiven Reisebericht, der wenige Jahre zuvor erschienen war. Diese Karte, die in manchen Atlanten gleich nach Asien, Amerika und Afrika eingebunden wurde, zeugt von einem Verschwimmen zwischen Fiktion und Ferne.

Ethnologie vs. Volkskunde: Die Beschreibung der Religionen

Die Europäer hatten im 16. Jahrhundert eine ziemlich klare Position in Sachen Religion: Zur Erschließung der Fremde gehörte der christliche Missionsauftrag, also die Verbreitung des „einzig wahren Glaubens“. Was in der Praxis nicht immer ganz so einfach war, wie man es sich in Rom vorstellte.

Die Ideen der Aufklärung änderten diese Position. Wer die Kirche und ihre Vertreter ablehnte und für religiöse Toleranz votierte, dem öffnete sich der Blick auf die verschiedenen Glaubensrichtungen der Völker. Plötzlich war die christliche Religion nicht mehr der „einzig wahre Glauben“, sondern eine Religion von vielen, die sich an den anderen messen musste. Der Hugenotte Jean Frédéric Bernard schrieb ein Werk, das genau diesem Geist verpflichtet war und zur Basis für das hier vorliegende Buch werden sollte. Es erschien zwischen 1723 und 1737 in Amsterdam und subsummierte in sieben Bänden das gesamte Wissen der damaligen Zeit über eigene und fremde Kulte. Der Kupferstecher Bernard Picard lieferte die Abbildungen dazu.

Was die Aufklärer als gewaltigen Schritt priesen, landete 1738 auf dem Index der katholischen Kirche. Der Hugenotte Bernard hatte sich gewisse Spitzen bei der Beschreibung des katholischen Glaubens nicht verkneifen können.

Das hier vorliegende Buch der französischen Geistlichen Antoine Banier und Jean-Baptiste Mascrier basiert auf Bernard und den Abbildungen von Bernard Picard. Die beiden Abbés schrieben die Abschnitte über die katholische Kirche völlig neu, überarbeiteten den Rest und bestätigten so den Führungsanspruch der katholischen als der wahren Religion. 1741 erschienen alle sieben Bände mit den gleichen Abbildungen und Informationen der Ausgabe aus der Feder von Jean Frédéric Bernard, aber diesmal nicht aus hugenottischer, sondern aus katholischer Sicht.

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Ob in der alten oder der neuen Fassung: Die Bände stehen am Beginn der vergleichenden Religionswissenschaft und sind ein Meilenstein auf dem Weg zur religiösen und ethnischen Toleranz – und das übrigens nicht nur gegenüber den „primitiven“ Völkern, sondern auch gegenüber den „ewig Fremden“ in Europas Mitte, den Juden.

Das Titelblatt der neuen Bände illustriert einen klaren Führungsanspruch der katholischen Kirche: Diese ist auf der Vignette im Mittelpunkt zu sehen, in der Hand den Kelch mit der Hostie und das ewige Licht hinter ihr leuchtend. Personifikationen der anderen Religionen des Buchs gruppieren sich um sie herum.

Der ausgestellte Band widmet sich den polytheistischen Völkern Asiens, also solchen mit vielen verschiedenen Göttern. Diese Seite ist dem japanischen Glauben gewidmet. Dass es dabei auch Missverständnisse gab, zeigt die Darstellung oben links, die mehr an die in Indien verbreitete Vorstellung des Quirlen des Milchozeans erinnert, der zu den wichtigsten hinduistischen Schöpfungsmythen gehört.

Dieser Kupferstich zeigt die Totenfeier und die Verbrennung eines Königs von Pegu in Burma. Schon Bernard betonte in seinem Werk die Gemeinsamkeiten: Unabhängig von ihrem Glauben verbinden alle Menschen mit dem Tod religiöse Rituale. Auch dem Europäer wild erscheinende Völker zeigen zutiefst menschlichen Emotionen wie der Trauer. Darstellungen wie diese veränderten die Sicht auf den Fremden und machten ihn zum Mitmenschen.

Natürlich gab es nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch befremdliche Unterschiede: Dieser hochdramatische Stich zeigt einen grausamen Brauch: Bei den Hindus existierte die Sitte, dass Witwen mit dem Leichnam ihres Mannes verbrannt wurden. Was ursprünglich nur aus freien Stücken geschehen sein mag, konnte natürlich auch erzwungen werden. Die Europäer waren davon schockiert und fasziniert. Entsprechend viele Darstellungen solcher Szenen gibt es.

Nicht nur an fernen, exotischen Orten gab es „Götzenanbeter“. Die skandinavischen Samen beteten - übrigens teilweise noch bis ins 19. Jahrhundert - ihre eigenen, alten Götter an. Dies thematisiert dieser Stich aus der Originalausgabe von 1724. Er zeigt das Gebet an eine Himmelsgottheit, die als Diermes oder auch Thor bezeichnet wird.

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John Stedman
Veröffentlicht 1797 in Hamburg, gekürzte Übersetzung des englischsprachigen Originals von 1796.
Georg Foster
Publiziert von Haude und Spener

Station 4: Europa erobert die Fremde

Ende des 18. Jahrhunderts veränderte sich die Einstellung Europas zum Rest der Welt drastisch. Die jungen Nationen machten sich daran, die Welt zwischen sich aufzuteilen. Moralische Bedenken? Man sucht sie vergebens.

Dahinter stand die Überzeugung, dass es höher und tiefer stehende Kulturen gäbe: Wer in der Lage war, Maschinen zu konstruieren, die eine industrielle Revolution auslösten, musste grundlegend anders beschaffen sein als all die anderen Völker, die nicht zu solchen technischen Höchstleistungen in der Lage waren. Daraus resultierte geradezu eine Pflicht - die Bürde des weißen Mannes, wie man damals sagte -, diese unterlegenen Völker als eine Art Vormund in die Moderne zu führen. Dass man dabei kräftig verdienen konnte, war ein angenehmer Nebeneffekt.

Was für furchtbare Folgen mit dieser Ausbeutung verbunden waren, zeigt uns der Bericht von John Stedman, der als Söldner angeheuert wurde, eine Rebellion von Sklaven niederzuschlagen. Stedman gehört zu den ersten Europäern, die das, was Einheimischen und Sklaven im Namen der Zivilisation angetan wurde, nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten.

Das zweite Buch ist ein Reisebericht, der von einer Expedition des berühmten Captain Cook handelt. Seit dem 18. Jahrhundert war es eine Frage des nationalen Prestiges, noch den letzten Winkel des Erdballs zu erforschen und zu kartieren.

Sklaverei

Die wirtschaftliche Erschließung anderer Kontinente durch die Europäer war untrennbar mit Sklaverei und Menschenhandel verbunden. Sklavenhändler verschleppten seit dem 16. Jahrhundert Millionen von Afrikanern nach Amerika, um auf den Plantagen Baumwolle, Tabak, Zucker, Kakao und Kaffee für Europa anzubauen.

Von ihrer unmenschlichen Behandlung berichtet das Tagebuch des Schotten John Stedman. Er schloss sich 1772 einem Söldnertrupp an, der in der niederländischen Kolonie Surinam einen Sklavenaufstand niederschlagen sollte. Die alltägliche Gewalt und die barbarischen Strafen, mit denen die Sklaven in Südamerika gefügig gemacht wurden, schockierten Stedman. Er beschrieb die Misshandlungen ausführlich und verurteilte sie.

Dafür gab es auch persönliche Gründe: Stedman hatte in Surinam zwischen Afrikanern, Indianern und den vielen gemischtrassigen Menschen gelebt. Er hatte sich in eine Mulattin verliebt und war Vater ihres Kindes.

Stedman machte sich in seinem Tagebuch viele Gedanken über die unterschiedlichen Rassen und kam zu einem entscheidenden Schluss: Es seien doch alles Menschen und damit Kinder Gottes, die es verdient hätten, menschenwürdig behandelt zu werden. Das war damals längst nicht so selbstverständlich, wie es für uns heute klingt.

Stedman steht für ein Umdenken, das Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte. Sein Buch wurde aufmerksam zur Kenntnis genommen, doch vielen schien die Sklaverei wirtschaftlich alternativlos zu sein – übrigens auch Stedman. Erst in den folgenden Jahrzehnten wurde die Sklaverei nach und nach geächtet. So verbot das Britische Empire den Sklavenhandel 1807, die Sklaverei selbst erst 1833.

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Für die englische Ausgabe von Stedmans Bericht wurden zahlreiche Stiche angefertigt, die auf seinen eigenen Zeichnungen beruhten und den grausamen Umgang mit Sklaven zeigten. Der Herausgeber der hier vorliegenden deutschen Fassung hielt es für nötig, diese sowie die zugehörigen Beschreibungen „zur Schonung des feinern Gefühls unsrer Leser, sehr abzukürzen, zum Theil sie ganz wegzulassen“.

Auch diese Darstellung stammt aus einer anderen Ausgabe von Stedmans Bericht. Wir zeigen Sie, um darauf hinzuweisen, dass durchaus auch Schweizer in dieses System verstrickt waren. Wir sehen seinen Söldnertrupp unter der Führung des aus der Waadt stammenden Schweizer Oberst Louis Henri Fourgenoud, der einen Ruf als besonders effizienter Unterdrücker von Sklavenrevolten genoss.

In Surinam lernte Stedman die 15-jährige Sklavin Joanna kennen, eine Mulattin, wie man damals Menschen mit weißen und schwarzen Vorfahren nannte. Er verliebte sich in sie, kaufte sie frei und zeugte mit ihr einen Sohn. Nach Europa wollte sie ihn nicht begleiten. Wobei dies eine Version ist. Laut dem ungeschönten Originalmanuskript kann es sich bei Joanna auch um eine Sklavin gehandelt haben, die Stedman für sexuelle und häusliche Dienste bezahlte.

Diese Karte von Surinam stammt aus einer französischen Ausgabe von Stedmans Bericht. Gelb abgegrenzt ist der kultivierte Teil des Landes. Daneben sind weitere Orte eingezeichnet, die beschrieben sind als „zerstörte Dörfer der rebellischen Neger“.

Bezeichnend ist die Vignette zur Karte Surinams unten rechts: Ein weißer Pflanzer raucht gemütlich seine Pfeife, während er den schwarzen Sklaven bei der Arbeit überwacht. Durchaus gewollt ist dabei die aufrechte Haltung des weißen und die gebeugte Haltung des schwarzen Mannes.

Die letzten Fremden

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war fast alles entdeckt. Um die wenigen „weißen Flecken auf der Karte“ zu füllen, wurden systematisch Expeditionen losgeschickt. Ein ziemlich großer weißer Fleck blieb lange Zeit der Pazifik. Ihn erforschte James Cook. Sein Auftrag lautete zu erkunden, ob es im Süden tatsächlich die von Geographen postulierte riesige Landmasse, die „Terra Australis“, gäbe. Die fand Cook nicht, dafür aber einen relativ kleinen Kontinent, den man entsprechend „Australien“ nannte.

Cook füllte auf seinen drei Forschungsreisen im Auftrag des British Empires viele weiße Flecken auf den Seekarten. Er entdeckte zahlreiche Inseln, so Hawaii, die Osterinseln, Tonga und Tahiti, die nach ihm benannten Cook-Inseln und Neuseeland. Seine dritte und letzte Reise führte ihn auch ins Polarmeer auf der Suche nach der legendären Nordwestpassage.

Schon nach seiner zweiten Forschungsreise war Cook eine Berühmtheit, sein Tod auf Hawaii während der dritten Reise (1776-1780) machte ihn zum Mythos. Das öffentliche Interesse an seiner Person heizte die Nachfrage nach Berichten über seine Reisen an, und zwar genau an solchen Berichten wie dem, den wir hier in deutscher Sprache vor uns haben. Übersetzt und lesbar gemacht wurde er von jemanden, der Ahnung von der Materie hatte: Georg Forster hatte Cook auf seiner zweiten Südseereise begleitet.

Er war Teil des wissenschaftlichen Teams gewesen, das den Entdecker begleitete, um die auf der Reise gewonnenen Erkenntnisse auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand zu dokumentieren. Schließlich galt genau das dem aufgeklärten Europa als Zeichen seiner Überlegenheit: Der gebildete Reisende zog seine wissenschaftlichen Schlüsse aus dem, was die Eingeborenen Jahrhunderte lang vor Augen gehabt, aber nicht verstanden hatten.

Diese Abbildung zeigt das Innere eines Hauses der Nuu-chah-nulth-Indianer, die noch heute an der kanadischen Pazifikküste leben. Die Illustrationen stammen zumeist von John Webber, einem professionellen Maler, der Cook auf dieser Expedition begleitete, um das Gesehene genau zu dokumentieren. Entgegen dem Zeittrend idealisierte Webber die Einheimischen nicht.

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Dieser Kupferstich zeigt Cook und einige seiner Männer während eines Festes auf den Freundschaftsinseln, heute Tonga. Cook gab der Insel diesen Namen, weil die Einheimischen ihn so gastfreundlich aufnahmen. Vielleicht hat aber auch eine Anekdote recht, die erzählt, die Einheimischen hätten geplant, Cook und seine Männer zu ermorden, hätten sich aber nicht auf ein gemeinsame Vorgehen einigen können und deshalb darauf verzichtet.

Das vom berühmten Gesellschaftsmaler Joshua Reynolds angefertigte Porträt zeigt den Polynesier Omai. Er war eine Sensation in Großbritannien. Er hatte sich Cooks zweiter Expedition angeschlossen, als diese 1733 seine Heimatinsel besuchte. In London galt er mit seinem eleganten Auftreten als der wahrgewordene Idealtyp des „edlen Wilden“ und verkehrte in den höchsten Kreisen. Nichtsdestotrotz zog Omai seine eigene Heimat dem zivilisierten London vor. Cook brachte ihn auf seiner dritten Südseereise wieder zurück nach Hause.

Der durchschnittliche Leser der Forsterschen Reisebeschreibung durfte sich trotzdem den „Wilden“ weit überlegen fühlen, vor allem wenn er schauernd ein Bild wie dieses betrachtete: Es thematisiert ein Menschenopfer auf Tahiti. Barbarische Menschenopfer waren in den Augen der Europäer natürlich wesentlich schlimmer als zivilisierte Strafen. Man denke nur an das beim Militär damals üblichen Spießrutenlauf, bei dem der Delinquent von seinen Kameraden langsam zu Tode geprügelt wurde.

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Taschenbuch der Reisen oder unterhaltende Darstellung der Entdeckungen des 18. Jahrhunderts. Für jede Klasse von Lesern.
E. A. W. von Zimmermann
Veröffentlicht 1812 in Leipzig bei Gerhard Fleischer dem Jüngeren.
 Le Simplon. Promenade Pittoresque de Genève à Milan.
Veröffentlich 1824 in Paris von Louis Janet.

Station 5: Europa besucht die Fremde

Im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdrängte das Bürgertum den Adel aus seiner gesellschaftlichen Führungsrolle. Hatte sich der Adel über seine Geburt definiert, entwickelte das Bürgertum neue Formen der Identifikation. Neben dem Reichtum war es vor allem der gemeinsame Bildungskanon, über den sich die Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft manifestierte.

Genauso wie die höhere Tochter Klavier zu spielen und angenehm zu singen hatte, musste der Herr des Hauses über die Welt Bescheid wissen. Dieses Wissen konnte er aus Büchern beziehen, die von geschäftstüchtigen Verlegern speziell zu dem Zweck herausgegeben wurden. Nicht umsonst nannte Meyer seine große Enzyklopädie ein „Konversations-Lexikon“.

Hatte der adlige Nachwuchs die „Grand Tour“ durch die Länder Europas noch hauptsächlich gemacht, um höfische Umgangsformen zu erlernen und im persönlichen Kontakt potentielle Verbündete zu finden, reiste der Bürger des 19. Jahrhunderts, um Bildung anzusammeln. Seine Reise in die Schweiz oder nach Italien bot ihm Gesprächsstoff für die heimatlichen Salons. Dabei ging es weniger darum, außergewöhnliche Erlebnisse vorweisen zu können, sondern sich durch ähnliche Bewertungen der immer gleichen Orte als Mitglied der arrivierten Gesellschaft zu zeigen.

Wir illustrieren diese Frühzeit des Tourismus durch Zimmermanns Taschenbuch der Reisen, einen Bestseller der Gattung. Unser zweites Beispiel ist der Vorfahr des Coffee Table Books, ein kleines Bändchen mit schönen Ansichten der Alpenwelt, die Reiseerinnerungen hervorrufen und für die Konversation nutzbar machen sollten.

Die Fremde und der Mann von Welt

„Da, auch die Seeschlange soll in den indischen Meeren wieder aufgetaucht sein!“ Mit diesen Worten will der Beamte Theobald Maske in Sternheims Komödie „Die Hose“ seiner Frau beweisen, dass er eben nicht der Spießer ist als den sie ihn verachtet, sondern ein Mann von Welt.

Denn im 19. Jahrhundert erkannte man den Mann von Welt - und eben deshalb nennt man ihn heute noch so - daran, dass er über die große, weite Welt Bescheid wusste. Und wer selbst nicht über sein Heimatstädtchen hinausgekommen war, musste Bücher lesen, um das Defizit zu beseitigen.

Was für eine wichtige Rolle der Bericht über die Fremde in der bürgerlichen Gesellschaft spielte, zeigt die Tatsache, dass auch eine ausschließlich auf Unterhaltung angelegte Zeitschrift wie die Gartenlaube nicht auf Geschichten aus der weiten Welt verzichten konnte.

Die Nachfrage war also groß. Eines der damals beliebtesten Werke wurde das Taschenbuch der Reisen, das Eberhard August Wilhelm Zimmermann zwischen 1801 und 1815 in 16 Bänden herausgab. Der weitgereiste Göttinger Mathematiker, Naturwissenschaftler und Geograph schuf damit einen Bestseller.

Die Leser liebten diese Bücher, weil sich der renommierte Wissenschaftler konsequent nach den Bedürfnissen seiner Zielgruppe gerichtet hatte. Schon die Tatsache, dass er nicht über seine eigenen Reisen schrieb - immerhin kannte Zimmermann die Schweiz, Frankreich, England, Italien, Schweden und Russland von ausgedehnten Besuchen - ist bezeichnend. Er setzte auf den Reiz des Exotischen, auch wenn er diese Länder nicht aus eigener Erfahrung kannte. Dafür bearbeitete er bekannte Reiseberichte in einer Art, die seine Leser geradezu verschlangen.

Zimmermann machte aus trockenen Fachbüchern spannende Unterhaltungsliteratur. Hier ein Beispiel. Was heutige Autoren mit einer Temperaturangabe abhandeln würden, schildert er folgendermaßen:

Als Bernier die Reise von Lahor nach Cashimere machte, fühlte er die Hitze sogleich oberhalb des dreißigsten Breiten-Grades weit heftiger als selbst in Arabien in Mocka. Schon die Morgenhitze hatte ihn so herabgebracht, daß er kaum glaubte, den Abend zu erleben. Mein Körper sagt er, ist ein wahres Sieb geworden. Wenn ich ein Maas Wasser in den Magen schütte, so sehe ich wie es bald darauf gleich einem Thau aus allen Gliedern, bis zu den Fingerspitzen, wieder hervordringt. Der Leib ist gänzlich mit kleinen rothen Blasen bedeckt, die wie Nadeln stechen.

Auch bei den Illustrationen setzte Zimmermann auf das Spektakuläre. Dieser ausklappbare Stich zeigt den spannenden Moment, in dem ein auf einem Elefanten thronender weißer Jäger auf den gefährlichen Tiger schießt, der sich ins Wasser geflüchtet hat.

Zimmermann beherrschte die Technik, genau dort anzuknüpfen, wo er seine Leser abholen konnte. Diese uns heute langweilig erscheinende Pflanze war für seine Zeitgenossen spannend, weil sie das durch den Indigo hervorgerufene Resultat ständig vor Augen hatten: Waffenröcke, Matrosenuniformen und die blaue Kleidung der Arbeiter - wir sprechen heute noch vom „Blaumann“ - wurden mit dem aus Indien importierten Farbstoff gefärbt.

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Diese Abbildung zeigt, im noch agrarisch geprägten Deutschland von höchstem Interesse, ein paar indischer Ochsen. Das bemerkenswerte daran (wir zitieren): Ein Paar solcher Ochsen kostete dem berühmten Tavernier 600 Rupien, ja man bezahlt sie oftmals mit Tausend Rupien (Gulden).

Man sieht, auch damals konnte man Leser schon mit hohen Preisen beeindrucken.

Um Ihnen einen kleinen Einblick zu geben, wie beliebt Zimmermanns Taschenbuch der Reisen war, zitieren wir aus dem Wunschzettel des zwölfjährigen Christian Grabbe (1801-1836):

Liebe Eltern, ich habe einen heftigsten Wunsch, Wunsch sage ich? - die heftigste Begierde, die größte Leidenschaft nach einem Buche. ... Wie gern gäbe ich vieles von meiner Kleidung dahin, um es zu erhalten, ... wie gern, wie freudig wollte ich auf manches Verzicht tun, wenn ich nur das Buch bekäme. ... Es heißt: Zimmermann, Taschenbuch der Reisen.

Die Fremde für den Kaffee-Tisch

Wenn Sie englische Romane des 19. Jahrhunderts lieben, wissen Sie, welch entscheidende Rolle der Salon für das öffentliche Auftreten einer bürgerlichen Familie spielte. Hier stellten sich die Gäste ein, um mit Tee und den unvermeidlichen Sandwiches bewirtet zu werden. Hier produzierte sich die Tochter des Hauses unter den strengen Blicken einer Anstandsdame am Klavier. Hier traf die Hausherrin ihre Freundinnen, und hier lernte (hoffentlich) die Tochter des Hauses mögliche Ehekandidaten kennen.

Manchmal ging das Kennenlernen gar nicht so leicht. Wie begann man eine interessante Konversation mit jemandem, den man noch nie vorher gesehen hatte? Vor allem, wenn man bedenkt, wie viele Themen als nicht salonfähig galten.

Zu diesem Zweck lagen überall im Salon auf kleinen Tischen Bücher herum, die mit ihrem Inhalt ein Gespräch anregen konnten.

Besonders beliebt, da absolut gesellschaftsfähig waren Bücher, die ein Mitglied der Familie als Souvenir von einer Reise mitgebracht hatte. Mit ihren hübsch gestalteten Einbänden machten sie sich wunderbar im eleganten Salon. Mit wenig Text und vielen Bildern waren sie bestens geeignet, die Anwesenden anzuregen, über ihre eigenen Reiseerlebnissen zu plaudern.

Schließlich war das Reisen im 19. Jahrhundert geradezu standardisiert. In Nachahmung der adligen Grand Tour reisten die Bürger über die Alpen, um in Florenz staunend vor dem David zu stehen und in Rom eine Münze in die Fontana di Trevi zu werfen. Man wusste, dass man die Schweizer Bergwelt für gewaltig, Neapel für dreckig und Venedig für morbide zu halten habe.

Wer wie Goethe zeichnerisch begab war, nahm sein eigenes Skizzenbuch mit auf die Reise und kam mit einer Fülle von Zeichnungen nach hause. Eine Skizze aus Goethes Buch zeigt die Via Mala - und zwar genau so, wie sie sich alle vorstellten: Eine imposante Natur, in der dem Menschen nichts anderes übrig blieb, als sich klein und unbedeutend zu fühlen.

Diejenigen, die nicht so begabt oder weitgereist waren, konnten sich ein Büchlein wie das unsere hier kaufen. Wobei, auch das war nicht billig. Eine Berliner Buchhandlung bot es zwei Jahre nach seinem Erscheinen im Literarisch-artistisch-musikalischen Anzeiger vom 25. Februar 1826 für 6 Taler an. Dies war ungefähr das Zehnfache dessen, was drei Jahre später der teuerste Platz für die Uraufführung von Goethes Faust im Hoftheater von Weimar kosten sollte.

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Das schöne Mädchen von Pao. Ein chinesischer Roman.
Otto Julius Bierbaum
Bei Johann Enschedé en Zonen in Haarlem vom Juli 1909 bis Februar 1910 in 600 Exemplaren für den Georg Müller Verlag in München gedruckt.
Der Papalagi. Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea.
Erich Scheurmann
Erschienen im Oesch Verlag, Zürich.

Station 6: Verfremdungen

Station 6 könnte uns fast in die Gegenwart katapultieren, in eine Zeit des Massentourismus, in der Individualtouristen mit Selfie-Sticks noch die einsamsten Berggegenden durchstreifen, um auf Instagram und Facebook ihre Follower zur Nachahmung zu inspirieren. In einer Zeit, in der man schon in Neuseeland gewesen sein muss, um überhaupt mitreden zu können, scheint nichts mehr fremd zu sein.

Die Fremde ist dabei nur noch Mittel zum Zweck: Wir erholen uns in ihr, sie dient als Kulisse für unsere Selbstdarstellung und wird durch eine unersättliche Tourismusindustrie bis zum Auszug der Einheimischen ausgebeutet.

Aber blicken wir noch einmal zurück an den Anfang des 20. Jahrhunderts, als der Massentourismus noch in den Kinderschuhen steckte. Schon damals verdrängte die scherzhafte Verfremdung der Fremde den eigentlichen Reisebericht. Marc Twain hatte mit seinen „Arglosen im Ausland“ geradezu eine neue Literaturgattung geschaffen.

Auch andere Autoren sprangen auf diesen Zug. Um potentielle Leser zum Kauf ihres Buchs zu veranlassen, machten sie sich hingebungsvoll über die Fremde lustig. Wir stellen Ihnen als Beispiel das bekannteste Werk des heutzutage eher unbekannten, damals sehr erfolgreichen Schriftstellers Otto Julius Bierbaum vor.

Zum Abschluss unserer Reise in die Fremde möchten wir noch ein Buch aufgreifen, das den Spieß umdreht. Im Papalagi blickt ein Fremder auf die ihm fremde Kultur des Westens - so scheint es wenigstens.

China als guter Witz

1895 vernichtete die Militärmacht des kleinen Staates Japan innert weniger Monate die große Armee des mächtigen Reichs der Mitte. Der chinesische Kaiser sah sich gezwungen, nicht nur eine gewaltige Summe an die japanischen Aggressoren zu zahlen, sondern auch umfangreiche Gebiete an Japan abzutreten.

Die westliche Welt war geschockt. Plötzlich war klar, dass es sich bei China um einen Koloss handelte, der auf tönernen Füßen stand. Und ein Münchner Journalist witterte ein gutes Geschäft. Er schrieb einen witzigen Roman, der seine Leser auf Kosten der Chinesen zum Lachen brachte.

Otto Julius Bierbaum (1865-1910) lebte im Münchner Schwabing und verdiente seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben. Er gehörte zu den regelmäßigen Autoren der satirischen Zeitschrift Simplicissimus und wusste, wie gerne seine Leser alles mochten, was sie zum Lachen brachte. Und das war doch zum Lachen: Ein Land wie China, das der Westen Jahrhunderte lang für ebenbürtig, wenn nicht überlegen gehalten hatte, erwies sich als unfähig, das viel kleinere Japan in seine Schranken zu weisen.

Als Vorlage diente Bierbaum ein bekanntes chinesisches Märchen, das der Sinologe Carl Arent 1875 ins Deutsche übertragen hatte: Das chinesische Original erzählt von der Lieblingsfrau des Königs, die nur lachen kann, wenn sie sieht, wie von den Wachtürmen aus das Warnsignal gegeben wird. Um ihr zu gefallen, lässt der König grundlos signalisieren, der Feind sei in Sicht. Seine Vasallen eilen herbei und realisieren, dass ihr Herr sie wegen einer Laune seiner Frau herbeizitiert hat. Empört ziehen sie sich zurück. Als wenig später tatsächlich ein Feind angreift, kommen sie nicht. Der Feind erobert das Königreich, König und Lieblingsfrau verlieren ihr Leben.

Otto Bierbaum verfremdete diese Geschichte gekonnt. Mit Hilfe vieler chinesischer Versatzstücke - er zitiert chinesische Versmaße, wandelt seinen Namen in Bi-bao-mo ab und benutzt als chinesisch assoziierte Phrasen - tut er, als handle es sich immer noch um die chinesische Originalversion, während bei ihm eine Zuhälterin eine begabte Frau zu einer Kurtisane ausbildet, die den Kaiser von China bald unter ihren Pantoffel zwingt.

Das hier ausgestellte Buch ist aus einem weiteren Grund interessant. Otto Julius Bierbaum hatte nicht nur eine spitze Zunge, sondern setzte sich vehement für die Wiederbelebung der Kunst des Buchdrucks ein. Für ihn war ein Buch ein Gesamtkunstwerk, bei dem Text, schöne Bindung, Typographie und Illustration zusammenwirkten, um den perfekten Lesegenuss zu garantieren. Um zu demonstrieren, wie das perfekte Buch beschaffen sein müsse, gab er kurz vor seinem Tode in Zusammenarbeit mit dem Münchner Müller Verlag eine Prachtausgabe seines erfolgreichsten Werks in Auftrag. Die fertigen Bücher wurden erst nach seinem Tod ausgeliefert.

Sie sind bibliophil gebunden und opulent mit wunderschönen Stichen ausgestattet, die eine interessante Mischung zwischen Jugendstil und chinesischem Holzschnitt darstellen. Nur 600 Exemplare wurden von dieser Sonderausgabe produziert, jedes einzelne davon ist nummeriert. Unser Exemplar trägt die Nummer 153.

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Die Fremde sind wir

Kennen Sie dieses Gefühl am Morgen, wenn sie sich beim Blick in den Spiegel fragen, warum sie eigentlich noch hier sind, wo sie doch längst reif für die Insel wären? Der tägliche Arbeitsweg auf den überfüllten Straßen der Großstadt kommt Ihnen so fremd vor. Ist es das bisschen Geld wirklich wert, sich dem launischen Chef, der nörgelnden Kundin zu stellen?

Dieses Gefühl ist nicht neu. Seit der Aufklärung zweifelten Autoren immer wieder am Sinn der westlichen Kultur. Und viele von ihnen taten dies, indem sie den „edlen Wilden“ bemühten, der in kunstlosen Worten all die Fragen formulierte, die sie laut auszusprechen nie gewagt hätten.

Montesquieu war der erste, der auf die Idee kam, die westliche Welt aus diesem verfremdeten Blickwinkel zu beschreiben. Er ließ zwei fiktive Perser nach Frankreich reisen und das, was sie sahen, in ebenso fiktiven Briefen den staunenden Daheimgebliebenen schildern. Dabei griff der Autor auf eine alte Tradition zurück: Schon längst gab es Reiseberichte in Briefform, nur dass er diesmal nicht das Ausland aus westlicher Sicht, sondern den Westen selbst beschrieb.

Das Buch wurde ein großer Erfolg. Es erlebte zu Lebzeiten des Autors 30 Auflagen und wurde ins Englische, Deutsche und Russische übersetzt. Wir sehen hier die Titelvignette zur deutschen Erstausgabe.

Viele sollten Montesquieu imitieren, so zum Beispiel Herbert Rosendorfer mit seinen Briefen in die chinesische Vergangenheit.

Auch Erich Scheurmann (1878-1957) gehörte zu seinen Nachahmern. Er reiste 1914 in die deutsche Kolonie Samoa, um sich dort für eine Südsee-Geschichte inspirieren zu lassen. Doch der Erste Weltkrieg kam dazwischen. Scheurmann floh in die USA, wo er seinen Papalagi schrieb, der 1920 veröffentlicht wurde.

Scheurmann war ein Anhänger der Lebensreform-Bewegung. Wie alle ihre Mitglieder kritisierte auch er die Auswüchse der modernen Zivilisation. Seine Erkenntnisse legte er einem einheimischen Häuptling in den Mund: Tuiavii warnt sein Volk davor, die Wertvorstellungen des Papalagi (= der Weiße, der Fremde oder der Himmelsdurchbrecher, so jedenfalls Scheurmann) zu übernehmen.

Dieser Häuptling, der als Darsteller in einer Völkerschau mitgewirkt hatte und so nach Europa gekommen war, fasste in elf Reden all das zusammen, was ihn an der westlichen Zivilisation störte: Die hochgeschlossene Kleidung, das Geld, die Zeitungen und das Denken überhaupt.

In den 20er Jahren wurden davon vielleicht ein paar Zehntausend Bücher verkauft - wenn es denn hoch kommt.

Erst die frühen 70er Jahre brachten dem Papalagi seinen großen Erfolg. Seine Aussagen passten hervorragend zu den Ideen der 68er, so dass Scheurmanns Buch zu einem Bestseller wurde. Mehr als 1,7 Mio. Mal soll es verkauft worden sein. Man spricht von Übersetzungen in mindestens zehn Sprachen.

Dabei ist der Autor in den Hintergrund getreten. Viele hielten und halten Scheurmanns Roman für authentische Reden eines Südseeinsulaners.

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Und damit sind wir am Ende unserer Reise angekommen. Die sechs Stationen haben uns ins Hier und Heute geführt, wo jeder einzelne von uns für sich entscheiden muss, was ihm fremd ist, und ob er diese Fremde gerne besser kennenlernen würde. Denn letztendlich ist jede Reise in die Fremde auch eine Reise zu uns selbst. Nur durch das andere lernen wir abzugrenzen, was wir selbst sind.